Marktberichte

DWS CIO View vom 01.03.2022

Putins Krieg entwickelt ungeahnte Dynamik

Die Invasion stockt, doch die westlichen Sanktionen kommen in Fahrt, was die Märkte widerspiegeln. Putins Reaktion bleibt offen, damit die Wirtschaftsentwicklung auch.

Im Gegensatz zur Invasion gewinnen die Sanktionen an Fahrt

Im Laufe des Wochenendes wurde deutlich, dass die russische Invasion in der Ukraine offenbar nicht so schnell vorankommt, wie es sich die russische Führung erhofft hat. Ein heftiger ukrainischer Widerstand und mangelhafte russische Logistik sind die wahrscheinlichen Gründe dafür. Gleichzeitig hat die Reaktion des Westens auf die Invasion deutlich an Zugkraft gewonnen, und lange bestehende Gewissheiten wurden innerhalb weniger Stunden umgestoßen. Die größte (und unmittelbarste) Auswirkung auf Russland dürfte der Ausschluss von etwa 70 Prozent der russischen Banken aus dem internationalen Bankennetz SWIFT sowie das Einfrieren der russischen Devisenreserven haben. Die Reserven der russischen Zentralbank belaufen sich auf 630 Mrd. US-Dollar, von denen 463 Mrd. USD in Fremdwährungen gehalten werden, davon 95 Mrd. USD bei anderen nationalen Banken und 15 Prozent davon in China. 132 Mrd. USD werden in Gold gehalten. Der Einsatz dieser Reserven für Interventionen auf den Finanz- oder anderen Märkten scheint plötzlich nahezu unmöglich oder zumindest kurzfristig sehr schwierig geworden zu sein. Die Zentralbank von Russland verschob den Devisen- und Anleihehandel am Montagmorgen (die Liquidität blieb anschließend sehr gering), während der Aktienmarkt am Nachmittag immer noch geschlossen war. Die Finanzsanktionen wurden jedoch so gestaltet, dass der Energiehandel nicht behindert wird. Neben den Sanktionen haben viele Länder und auch die EU selbst ihre Militärhilfe für die Ukraine erhöht. Am bemerkenswertesten ist die Kehrtwende Deutschlands, da das Parlament nun die Lieferung deutscher Waffen an die Ukraine genehmigt hat. Darüber hinaus gibt es verschiedene Maßnahmen, die darauf abzielen, russische Vermögenswerte im Ausland einzufrieren, vor allem von Oligarchen, die dem Umfeld von Präsident Putin zugerechnet werden. Verschiedene Länder sowie die EU selbst, haben zudem Flugverbote für russische Zivilflugzeuge angekündigt. Einige Vermögensverwalter und Unternehmen haben angekündigt, ihre russischen Vermögenswerte zu veräußern, während andere, die direkt in Russland engagiert sind, befürchten, dass sie enteignet werden könnten. Indien und China halten weiterhin an ihrer "pro-russischen" Neutralität fest. Die Schweiz, von wo ein großer Teil des Handels mit russischen Rohstoffen erfolgt, hat am Montag zugesagt, sich den EU-Sanktionen anzuschließen.

Aus Frustration über die mangelnden Fortschritte seiner Armee sowie über die koordinierten Sanktionen des Westens hat Putin seine Atomstreitkräfte in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat den am Montag an der weißrussischen Grenze stattfindenden Verhandlungen zwischen Vertretern beider Seiten wenig Aussicht auf Erfolg eingeräumt.

Viele offene Fragen, doch das Stagflationsrisiko steigt

Die Sanktionen des Westens haben umgehend Wirkung gezeigt. Der Rubel begann den verspäteten Handel am Montagmorgen etwa 30 Prozent unter dem Schlusskurs vom Freitag, bevor er sich etwas erholte. Der Rubel liegt jetzt 31 Prozent unter seinem 3-Jahres-Durchschnittskurs zum Dollar, während die ukrainische Griwna im gleichen Zeitraum nur elf Prozent gegenüber ihrem mittleren Kurs verloren hat. Die europäischen Aktien (EuroStoxx 50) fielen am Montagmittag um rund drei Prozent, erholten sich jedoch anschließend etwas. Die EU warnte, dass der europäische Zweig einer der größten russischen Banken möglicherweise Konkurs anmelden müsse, und an den russischen Geldautomaten bildeten sich lange Schlangen, da die Menschen versuchten, an Bargeld, insbesondere an harte Währung, zu kommen.

Unseres Erachtens sollte man in Bezug auf die Sanktionen folgendes beachten: Angesichts der einhelligen Ablehnung der russischen Aggression im Westen und der Notwendigkeit, schnell zu handeln, ist es sowohl sehr wahrscheinlich, dass die normalen bürokratischen und diplomatischen Hürden bei der Umsetzung der Sanktionen schnell überwunden werden, als auch, dass die Bereitschaft westlicher Finanzintermediäre und Anwälte, bei der Umgehung der Sanktionen zu helfen, aus Angst vor eine Image- oder anderer Schäden gering sein wird.

Die wichtigste Frage, die sich die meisten Menschen jetzt stellen, ist natürlich: Wie wird Putin auf dieses überraschende, konzertierte Vorgehen gegen ihn reagieren? Wird er weiter eskalieren, oder wird er versuchen, zu deeskalieren und sich durch Verhandlungen aus dieser Situation herauszuwinden? Und sollte er es auf die Spitze treiben wollen, würde seine Entourage in der Lage sein, ihn aufzuhalten oder nicht? Wir wagen keine Spekulationen, aber die Auswirkungen der unterschiedlichen Szenarien könnten kaum größer sein.

Wir wagen zwei Aussagen: Erstens werden die kurzfristigen Auswirkungen einer Entwicklung in der Regel überschätzt, während die langfristigen Auswirkungen unterschätzt werden. Außerdem könnte Putins Krieg bestehende Trends, wie etwa die Verlangsamung der Globalisierung, ähnlich beschleunigen, wie es Corona auch getan hat.

Die Sanktionen des Westens haben umgehend Wirkung gezeigt

Kurzfristig und technisch gesehen erheben die Märkte bei solchen Ereignissen eine Risikoprämie, wobei eine höhere Risikoprämie niedrigere Preise bedeutet, wie es bei ähnlichen Ereignissen bereits zu beobachten war. Sobald die Märkte jedoch zu dem Schluss kommen, dass sich die (wirtschaftliche) Lage nicht weiter verschlechtert, beginnt diese Risikoprämie wieder zu schwinden, und die Preise steigen entsprechend. Entsprechend hält sich am Markt die Ansicht, dass der Zeitpunkt zum Kaufen dann ist, „wenn die Kanonen donnern", wie der britische Adelige Baron Rothschild im 18. Jahrhundert empfahl. Wir möchten hinzufügen, dass es in den letzten 50 Jahren in der Regel einige Wochen nach Beginn eines Krieges gedauert hat, bis die Märkte einen Boden gefunden haben. Wir möchten aber auch betonen, dass ein militärischer Konflikt dieses Ausmaßes im Hinterhof der EU und unter Beteiligung einer Supermacht in den letzten 70 Jahren nicht vorgekommen ist. Die Vergleiche mit anderen Konflikten der vergangenen Jahrzehnte hinken daher schnell.

Wie sieht es mit den langfristigen Auswirkungen aus? Eine höhere Inflation scheint so gut wie sicher zu sein, sei es wegen der verschiedenen Angebotsschocks (hauptsächlich, aber nicht ausschließlich im Zusammenhang mit Rohstoffen) oder wegen der gestiegenen Risikoprämien - wiederum hauptsächlich bei Rohstoffen. Die 10-jährige Breakeven-Inflationsrate, die in den Renditen deutscher Bundesanleihen eingepreist ist, hat letzte Woche die 2-Prozent-Marke überschritten.

Für das Wirtschaftswachstum ist die Prognose weniger eindeutig. Beginnen wir mit den möglichen negativen Auswirkungen: Die oben erwähnten Probleme mit Angebotsschocks dürften das Wachstum ebenso belasten wie das wahrscheinlich verschlechterte Verbrauchervertrauen, das zu steigenden Sparquoten und geringerem Konsum führen würde. Sollte es Russland gelingen, die Ukraine zu kontrollieren, dürfte der Westen diese Volkswirtschaft längerfristig so weit wie möglich vom Welthandel isolieren.  

Das Wachstum könnte jedoch dadurch gefördert werden, dass die Ausgaben für Militär, Infrastruktur und Cyber Security im Westen wahrscheinlich nicht nur erhöht, sondern auch beschleunigt werden. Zwei Beispiele in Deutschland stechen hervor: Die deutsche Regierung hat im Grunde nur vier Tage gebraucht, um zuzugeben, dass die Militärausgaben unzureichend sind; sofort wurden 100 Milliarden Euro für die Armee zugesagt. Mehr Waffen und mehr Munition bedeuten zusätzliche Nachfrage, nicht zuletzt nach Rohstoffen. Auch bei der Energieinfrastruktur ging es auf einmal sehr schnell: Jahrelang stockten die Planungen für das erste deutsche LNG-Terminal, weil die Frage ungeklärt war, ob die Investitionen (und die damit verbundenen Arbeitsplätze) nach Brunsbüttel, Wilhelmshaven oder anderswohin gehen sollten. Auch diese Frage wurde nach vier Tagen entschieden, mit der Ankündigung, dass je ein Terminal in Brunsbüttel und in Wilhelmshaven gebaut werden1. Mehr Investitionen bedeuten auch hier mehr Nachfrage.

Auch die Cybersicherheit ist nicht erst seit letzter Woche ein Thema. In den nächsten Tagen werden wir vielleicht herausfinden, ob russische Hacker die Fähigkeit entwickelt haben, Unternehmen oder sogar kritische Infrastrukturen lahmzulegen (man erinnere sich an die Pipeline an der US-Ostküste). Wenn die Russen über diese Fähigkeiten verfügen, werden sie sie jetzt einsetzen (und damit offenbaren, dass sie sie haben)? In jedem Fall ist mit einer völlig neuen Dimension der Bemühungen (und Ausgaben) im Bereich der Cybersicherheit zu rechnen, und zwar sowohl von staatlicher und militärischer Seite als auch vom privaten Sektor.

Nachdem der Handelskrieg zwischen den USA und China und die Corona-Pandemie mit all ihren plötzlichen Lieferkettenproblemen der Globalisierung bereits einen Schlag versetzt haben, könnte die Invasion eine ähnliche Wirkung entfalten. Globale Lieferketten werden wieder auf ihre Zuverlässigkeit und nicht nur auf ihre Kostenvorteile hin überprüft werden. Mehr lokale Produktion und mehr Lagerhaltung bedeuten weniger Effizienz und höhere Preise. Es gibt also sowohl Argumente für mehr als auch für weniger Wachstum. Aber zugegebenermaßen ist die Wahrscheinlichkeit, dass Europa auf ein Stagflationsszenario in diesem Jahr zusteuert durch den Krieg gestiegen. Die Zentralbanken werden zwar alles tun, um plötzlichen Stress auf den Finanzmärkten zu vermeiden, doch anders als in den vergangenen Jahren können sie die Inflation diesmal nicht ignorieren.

Kursziele werden überarbeitet

Wir überarbeiten derzeit die Wahrscheinlichkeiten für verschiedene Ergebnisse in Bezug auf die militärische Entwicklung, Sanktionen, Energieversorgung, Wachstum, Inflation und die Reaktionen der Zentralbanken. Unsere neuen Prognosen für die einzelnen Anlageklassen werden auf diesen Annahmen basieren und zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben. Vorerst wird die Marktvolatilität wahrscheinlich hoch und schlagzeilengetrieben bleiben. 


Rechtliche Hinweise

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Prognosen basieren auf Annahmen, Schätzungen, Ansichten und hypothetischen Modellen oder Analysen, die sich als nicht zutreffend oder nicht korrekt herausstellen können.

Alternative Anlagen sind mit diversen Risiken behaftet, nicht unbedingt für jeden Anleger geeignet und für jedes Portfolio verfügbar.

Fußnoten

1 siehe Link