von Norbert F. Tofall
I.
Im Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Matthäus 25, 14-30) gab ein Mann, bevor er auf Reisen ging, einem seiner Diener fünf Talente Silbergeld, einem anderen Diener zwei und einem dritten Diener ein Talent. Der erste Diener wirtschaftete mit den ihm anvertrautem Geld so erfolgreich, dass er noch fünf weitere Talente Silbergeld hinzugewann. Der zweite Diener handelte ebenso und gewann zwei Talente dazu. Der dritte Diener grub hingegen ein Loch in die Erde und versteckte das Geld seines Herrn.
Als der Herr nach langer Zeit von seiner Reise zurückkehrte, lobte er den ersten und zweiten Diener für ihre Treue und Tüchtigkeit und sagte zum dritten Diener, der das Geld vergraben und nicht mit ihm gewirtschaftet hatte: „Du bist ein schlechter und fauler Diener! Du hast gewusst, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und sammle, wo ich nicht ausgestreut habe. Du hättest mein Geld auf die Bank bringen müssen, dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückerhalten.“ Und der Herr ordnete nach weiteren Ausführungen an: „Werft den nichtsnutzigen Diener hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein.“
Angesichts dieser Aussichten verwundert es nicht, dass die Kontobücher florentinischer Bankiers im 13. und 14. Jahrhundert mit der Losung „Für Gott und den Profit!“ verziert waren.2 Denn ein Vermögensverwalter, der nicht treu und tüchtig das Geld seiner Kunden verwaltet und vermehrt, ist ein nichtsnutziger Diener und wird früher oder später von den Finanzmärkten in die äußerste Finsternis geworfen werden.
Nichtsdestotrotz scheinen Finanzmärkte und Profitstreben in weiten christlichen Kreisen bis hin zu obersten kürzlich verstorbenen Kirchenführern in Rom im schlechten Ansehen zu stehen. Die Tugenden Treue und Tüchtigkeit stehen im Gleichnis von den anvertrauten Talenten zwar eindeutig in positiver Beziehung zum Profitstreben. Das aus dem vorchristlichen Heidentum stammende Vorurteil, dass der Handel ein Nullsummenspiel sei, dass also der Profit des einen immer einen Verlust des anderen bedeutet, weshalb der heidnische Gott Hermes der Gott der Diebe und der Kaufleute ist, scheint regelmäßig den positiven Zusammenhang von Treue, Tüchtigkeit und Profit zu verdrängen, ganz so, als sei der heidnische Gott Hermes im Denken und Fühlen vieler Menschen immer noch sehr lebendig. Besondere Kraft scheint dieses Vorurteil zu erlangen, wenn der Handel nicht nur im direkten Tausch von Waren und Dienstleistungen besteht, sondern wenn der Handel erleichternd mit Hilfe des Tauschmittels Geld abgewickelt und so die direkten und indirekten Tauschhandlungen komplexer und unübersichtlicher werden und wenn mit Hilfe von Geld und Geldverleih intertemporale Tauschhandlungen ermöglicht werden.
Dabei kann aus dem Gebot „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat“ (2. Mose 20, 17) nicht abgeleitet werden, dass ich nicht „auch“ ein Haus begehren darf. Das Zehnte Gebot zielt darauf, dass ich nicht das ganz konkrete Haus meines Nächsten begehren soll. Wenn ich „auch“ ein Haus begehre und daraus produktive, wertschöpfende und profitable Handlungen folgen, so dass ich auch ein Haus baue, dann gibt es anschließend sogar ein Haus mehr. Der Wohlstand in der Gesellschaft ist gestiegen und der Friede wurde bewahrt. Und das ist auch der Grund, weshalb der Markt Wohlstand für alle ermöglicht, solange das Gebot „Du sollst nicht stehlen“ nicht verletzt wird.3
II.
Wenn Handel ein Nullsummenspiel sein sollte und die Gewinne aus dem Handel Diebstahl, dann liegt es nahe, dass Zinsforderungen aus Geldverleih ebenfalls eine Form von Diebstahl bzw. Wucher darstellen und damit sündhaft sind.4 Die ökonomische Entwicklung in Europa vom 11. bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, die eine enorme Zunahme des allgemeinen Wohlstands erzeugt hatte, strafte diese Vorurteile jedoch Lügen. Eine Zunahme des allgemeinen Wohlstands, d.h. des Wohlstands für alle, hätte es in einem Nullsummenspiel einfach nicht geben können. Die ökonomische Entwicklung des 11. bis 13. Jahrhunderts führte deshalb dazu, dass Moraltheologen5 des 13. Jahrhunderts die herrschenden Verhältnisse genauer analysierten. Zu diesem Zweck gingen sie den erkenntnisleitenden Fragen nach, unter welchen Bedingungen der Handel kein Null- oder Negativsummenspiel (Wucher) ist und wann Zinsforderungen gerechtfertigt sind.
Bei der Beantwortung dieser Fragen sticht besonders der Franziskanerpater Petrus Johannis Olivi (1248 bis 1298) hervor. Olivi war einer der prominentesten Vertreter der radikalen Armutsfraktion des Franziskanerordens. Anders als diese Eingruppierung heute angesichts des Pontifikats von Papst Franziskus vermuten läßt, legte ausgerechnet dieser Vertreter der radikalen Armutsfraktion in seinem 1293/1294 verfaßten und 1295/1296 überarbeiteten „Traktat über Verträge"6 eine Rechtfertigung des Zinses vor, indem er erstmals einen Begriff des Kapitals entwickelte.7
Olivi erörtert ausführlich, dass Kapital auf die Produktion gerichtet ist und dass die Bewertung der Kapitalgüter der subjektiven Wertlehre unterliegt. Zudem gelingt es ihm, durch die Unterscheidung von Geld und Kapital zwischen ungerechtfertigten Zinsforderungen oder Wucher und gerechtfertigten Zinsforderungen zu unterscheiden. Zinsforderungen aus einer Geldleihe, die zum Zweck der Investition in Kapitalgüter erfolgt, können so – weil auf die Produktion und damit auf das Gemeinwohl gerichtet – gerechtfertigt und vom Wucher unterschieden werden.
Aber auch Fragen des intertemporalen Handels gelangen durch die Unterscheidung von Geld und Kapital zu einer neuen Beurteilung, was Olivi an einem Beispiel erläutert: Angenommen, jemand hat beschlossen, sein Getreide nicht sofort auf den Markt zu bringen, sondern das Getreide erst später zu verkaufen, wenn ein höherer Preis zu erzielen ist. In dieser Situation bittet eine andere Person ihn, das Getreide jetzt zu verkaufen. Olivi vertritt die Ansicht, daß der Eigentümer des Getreides den für den späteren Zeitpunkt erwarteten höheren Preis verlangen kann, ohne sich dem Vorwurf des Wuchers auszusetzen.8 Olivi argumentiert wie folgt:
„Der Grund aber, warum er es [das Getreide] zu diesem Preis verkaufen oder tauschen kann, ist einerseits: der, dem er es leiht, ist ihm zu einer mit Wahrscheinlichkeit gleichwertigen Leistung verpflichtet bzw. dazu, ihn vor dem Verlust eines wahrscheinlichen Gewinns zu bewahren; andererseits: das, was nach dem festen Vorsatz seines Besitzers dazu bestimmt ist, einen wahrscheinlichen Gewinn abzuwerfen, hat nicht nur den Charakter des einfachen Geldes bzw. der einfachen Sache, sondern darüber hinaus noch eine gewinnträchtige Beschaffenheit, die wir gemeinhin Kapital nennen, und daher muss nicht nur sein einfacher Wert erstattet werden, sondern auch der Mehrwert."9
Von dieser moraltheologischen Rechtfertigung des Zinses bis zur vollständigen Aufhebung des christlichen Zinsverbots und der Entwicklung des modernen Kapitalismus war es noch ein langer Weg. Dem Vertreter der radikalen Armutsfraktion der Franziskaner Petrus Johannis Olivi hätte es aber vermutlich erfreut, dass der Kapitalismus und die Globalisierung der letzten Jahrzehnte die größten Armutsbekämpfungsmittel waren, welche die Geschichte der Menschheit bislang gesehen hat.10 Olivi, der für sich selbst die Armut freiwillig gewählt hat, war – wie seine Ausführungen zeigen – weit davon entfernt, Kapital und Finanzmärkte zu verurteilen. Und er dürfte auch weit davon entfernt gewesen sein, menschliches Leid und unfreiwillige Armut zu sakralisieren.11
III.
Viele heutige Diskussionen über Geld und Kapital und Finanzmärkte fallen hinter die Einsichten von Petrus Johannis Olivi aus dem 13. Jahrhundert zurück. Das ist nicht nur aus Sicht der Vermögensverwaltung irritierend. Denn ohne freie Finanzmärkte und die positive gesellschaftliche Anerkennung von Kapital und von Eigentumsrechten ist eine effiziente Verwaltung von Vermögen kaum möglich. Planwirtschaftliche Wirtschaftssysteme neigen dazu, Eigentumsrechte massiv einzuschränken oder gar abzuschaffen. Auch aus christlicher Perspektive sollten die Alarmglocken läuten. Denn Hilfe für die unfreiwillig Armen ist für jeden Christen ein unhintergehbares Gebot. Almosen sind in vielen konkreten Situationen notwendig und wichtig. Armutsbekämpfung geht jedoch darüber hinaus, wird aber erheblich schwieriger, wenn wirtschaftliches Handeln als Nullsummenspiel und Profit als untugendhaft denunziert wird.
Viele ökonomische Argumente sprechen zudem dafür, dass die vorurteilsbehaftete und Gott Hermes huldigende Ablehnung von Kapitalismus und Globalisierung nicht nur die nachhaltig wirksame Armutsbekämpfung verhindert, sondern massenhaft Armut erzeugt. Über diese Beurteilung muß in der Kirche in aller „Geschwisterlichkeit“ (Papst Franziskus) gestritten werden können und nicht nur in der säkularen Gesellschaft. Ein katholischer Liberaler wie der Verfasser dieses Textes sieht das anders als ein katholischer Peronist oder Sozialist. Dass die Ablehnung von Marktwirtschaft und Kapitalismus Armut erzeugt, konnte jedoch bis 1989 nicht nur im ehemaligen Ostblock beobachtet werden (Stichwort: Abriss ohne Bomben), sondern in den letzten 80 Jahren auch im peronistisch geprägten Argentinien.12
Der argumentative Streit in aller „Geschwisterlichkeit“ (Papst Franziskus) über den besten Weg zur Armutsbekämpfung13 sollte jedoch nicht der Versuchung erlegen, die jeweils eigene Position als einzig mögliche christliche auszugeben. Vor allem sollte beachtet werden, dass Joseph Ratzinger bereits 1986 in seinem Vortrag „Politik und Erlösung. Zum Verhältnis von Glaube, Rationalität und Irrationalem in der sogenannten Theologie der Befreiung“ schrieb, dass die römisch-katholische Lehre „keine exklusiven politisch-ökonomischen Projekte anbieten (kann); sie kann keine kompakten und mit Notwendigkeit eintretenden Verheißungen geben; sie kann vor allem keine Endgültigkeit politischer Heilszustände versprechen. Denn wenn die Politik immer auf der Freiheit und immer auf der sittlichen Verantwortung des Menschen ruht, dann gibt es den endgültigen und endgültig zwingenden Fortschritt in ihr nicht“ (S. 22). „Die Werke rechtfertigen nicht, d.h. die Politik erlöst nicht, und wenn sie diesen Anspruch erhebt, wird sie zur Sklaverei“ (S. 24).
Wenn die römisch-katholische Lehre keine exklusiven politisch-ökonomischen Projekte anbieten und vor allem keine Endgültigkeit politischer Heilszustände versprechen kann, dann sollte das bei der Wahl eines neuen Papstes im Vordergrund stehen, - eines Papstes, der Oberhaupt von 1,4 Milliarden Katholiken ist und für die kirchliche Einheit dieser 1,4 Milliarden Gläubigen Sorge zu tragen hat. Wirtschaftspolitische Positionierungen, die als christliche Erlösungsprogramme formuliert werden, dürften jedoch dazu führen, dass die Kirche die ohnehin vorhandene gesellschaftliche und politische Polarisierung verstärkt, anstatt zur Überwindung von Polarisierung beizutragen. „Die Werke rechtfertigen nicht, d.h. die Politik erlöst nicht…“ und deshalb muss und kann über die richtigen „Werke“ zur Armutsbekämpfung auch innerhalb der Kirche mit ökonomischen Argumenten und ohne Anspruch auf Erlösung gestritten werden. Auch Marktwirtschaft und liberaler Rechtsstaat widersprechen nicht dem kirchlichen Dogma. Aber auch Marktwirtschaft und liberaler Rechtsstaat führen nicht zur Erlösung.